» Vita

Konzeptionelle Gedanken für eine zukünftige Ausbildung von Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusikern

Die gesamte Situation der Gesellschaft zwingt über das künftige Berufsbild des Kirchenmusikers neu nachzudenken. An diesem Nachdenken möchte ich mich mit nachfolgendem kleinen Beitrag eigener Gedanken beteiligen. Meine Ausgangsüberlegung dabei ist die, eine vernünftige, will sagen praktisch brauchbare, Relation zu traditionell Bewährtem und zu begehendem Neuland herzustellen. Daher bitte ich meine etwas schematische Trennung dennoch als zwei Teile eines Ganzen zu sehen. Denn ohne Tradition ist Innovation ohne Fundament und ohne Innovation ist Tradition ohne Zeitbezug und damit sinn-los (ohne Sinn).

Ausgangssituation:

Wir stellen uns also einen jungen Menschen vor, der aus christlichem Elternhause stammend durch Unterricht auf dem Klavier eine gewisse Fertigkeit erlangt hat und bei der Suche nach einem geeigneten Berufsbild nicht das eines Pfarrers, sondern das eines Kantor wählt. Vielleicht haben Ihn seine musikalischen Neigungen dazu bewogen. Über sein Talent, also die musikalische Bildungsfähigkeit, ist allerdings damit nichts gesagt. Welches Berufsbild mag er, nennen wir ihn mal Johannes, von der zukünftigen Arbeit eines Kantors haben? Zuerst einmal wird er das weniger in Betracht gezogen haben, als die Überlegung, seinen christlichen Glauben mit seinen musikalischen Neigungen in einem Beruf zu vereinen. Dann aber sieht er sein Lebensumfeld an. Kommt er aus der Großstadt, wird er die Arbeit eines Kantors neben der liturgischen Tätigkeit besonders durch Kirchenkonzerte erlebt haben. Kommt er vom Lande, bleibt ihm oft nur der Blick auf die Stadt, vielleicht hat er in seiner Gemeinde schon die Orgel gespielt, weil ein ausgebildeter Organist durch die Gemeinde als Vollamt nicht bezahlbar ist. Was Johannes aber in jedem Fall erfahren hat, sind die Lebensgeschichten einiger weniger großer Kantoren wie Johann Sebastian Bach u.a. Sie alle waren Komponisten. Hat Johannes sein schöpferisches Potential schon mal ausprobiert? Vielleicht, aber er zeigt es lieber nicht. Sicherlich hatte die Klavierlehrerin bei seinem Erstversuch, als er 12 war nur gelächelt. Oder der unterrichtende Kantor hat ihm etwas von Kontrapunkt und Fuge erzählt, was ihn offenbar nicht unbedingt anspornte, weitere Versuche zu unternehmen. Und schließlich siegte die Überzeugung, daß es ja schon genug Komponisten gab, die offenbar alles besser konnten als er. Sein Berufsbild ist also verschwommen, oft unreell, hat aber auch Träume und Überlegungen, die ihn tragen. Welche Tradition bietet ihm die Kirchenmusikausbildung und welche Innovationen gibt Sie ihm als Anregung zum Weiterdenken, welches Werkzeug taugt zum Hinterfragen des Gelernten? Welche berufliche Perspektive erwartet ihn, wenn er nicht so begabt ist und Glück hat, Kirchenmusikdirektor oder Kreuzkantor zu werden?

Tradition der Kirchenmusik:

Das Berufsbild des Kantors ist traditionell geprägt von der eines im Kirchendienst stehenden Musikers, der nach den spezifischen Erfordernissen der kirchenmusikalischen Praxis ausgebildet ist. D.h.: er versteht sich auf die theologischen Gehalte der Kirchenmusik und kennt die Liturgie, er spielt Orgel, er kann einen Chor leiten (einschließlich Stimmbildung) und er ist in der Lage auch mit Instrumentalensembles zu arbeiten. So war es in der Vergangenheit. Darüber hinaus erwartete man von Ihm, daß er die örtliche Kirchenmusik mit seinen eigenen Arbeiten bereicherte. Je geschickter er das tat, desto erfolgreicher war die Verbreitung seiner Werke. Die Anzahl der nicht mehr komponierenden Kirchenmusiker war erst zu Beginn unseres Jahrhunderts zurückgegangen und hat heute einen Stand erreicht, der mit Blick auf die schöpferischen Traditionen beschämend gering ausfällt.

Positionsbestimmung heute:

Die immer mehr abnehmende Zahl der Kirchenmitglieder, gemessen an der Gesamtbevölkerung zwingt dazu, alle kirchlichen Aufgaben effizienter, d.h. vordringlich mit geringerem Personalaufwand, zu verteilen. Damit ist auch eine Kopplung von rein katechetischer Tätigkeit mit kirchenmusikalischer im Berufsbild des Kantorkatecheten entwickelt worden. Allerdings ist die geringere Anzahl der Kirchenmusikstudierenden bereit, eine Mischausbildung hinzunehmen. Der traditionelle Pastor-Kantor-Streit leuchtet auf und die Probleme bleiben offen. Welche Möglichkeit haben denn die Landeskirchen besonders auf den Landgemeinden, Kantorkatecheten zu beschäftigen? Auch diese werden doch immer geringer. Des weiteren hat sich durch den Einzug neuer Musikformen aus der Popkultur ergeben, daß man auch dort eine gewisse Vorbildung erwartet. Damit ist das von jeher schon umfangreiche Berufsbild derart erweitert worden, daß man ein Faktotum sein müßte, alle Aufgaben zu bewältigen. Hinzu kommt, daß die so schon teure und ausgereizte musikalische Ausbildung Erweiterungen ohne Ausweitung der Regelstudienzeit nicht mehr zuläßt. Die Erhöhung der Regelstudienzeit, die größere Stundenzahl erfordert einen höheren Personalaufwand im Ausbildungsbereich. Das kostet Geld und Geld ist ja das einzige was offenbar fehlt. Die finanziellen Aufwendungen, die eine Kirchengemeinde heute hat, sind derart hoch, daß trotz der Erhebung von Kirchgeldern eine Fortsetzung der traditionsreichen Kirchenmusik am Ort ihrer Entstehung nur noch an wenigen Stellen geleistet werden kann. Und diese liegen bekanntlich in den Großstädten. Die gesellschaftliche Wahrheit aber, daß die Metropolen nur verwerten und die Provinzen die Produzenten von Kunst sind, erklärt die desolate Situation der mittlerweile fast innovationsfeindlichen Kirchenmusik in den evangelischen Landeskirchen. Ich meine das natürlich immer im Vergleich mit der Tradition. Die musikalischen Schätze, die kleine Landpfarrarchive besitzen, zeigen die reiche Historie, die mit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr zurückgegangen ist. Die musikalische Nutzung dieser Bestände erfolgt durch nichtkirchliche Stellen und Institutionen. Immer mehr hat die Kirche zugelassen, daß Musik für die Kirche verweltlicht in Konzertsäle vordringt. Dabei muß allerdings konstatiert werden, daß die weltlichen Darbietungen wesentlich bemühter um aufführungspraktische Fragen sind und damit allen musikologischen Erkenntnissen der Zeit besser entsprechen.

Diesen letzten Aspekt halte ich für unbedingt überdenkenswert. Es ist nämlich wirklich so, daß historische Musik eine Herkunft hat, daß ein Komponist für eine vorgefundene Besetzung schrieb und wohlmöglich anders komponierte, wenn er ein anderes Instrumentarium oder andere Bedingungen gehabt hätte. Somit ergeben sich klangliche Aspekte, die nicht unbedingt etwas mit ästhetischen Überlegungen zu tun haben müssen. Vielmehr offenbart eine historische Musik ihre vollen Reichtümer oft erst dann, wenn man ihr historisches Gewand öffnet. Darüber hinaus hatte die Kirchenmusik besonders eine funktionale Bindung. Niemand wäre auf die historisch absurde Idee gekommen das Bachsche Weihnachtsoratorium in der Art der Weihnachtshistorien von Schütz und Schelle oder gar nach der Art der Requienmusiken eines Brahms oder Verdi zu behandeln. Hier offenbart sich ein Zerrbild, wo mir immer wieder die Frage hochkommt, warum hier gerade auch im innerkirchlichen Konzertbetrieb derart untheologisch verfahren wird. Man kopiert ja nur den weltlich - bürgerlichen Konzertsaal. Somit ist die kirchenmusikalische Praxis im Umgang mit der traditionellen Musik fragwürdig, da hier Zerrbilder entstehen, die durch die Einbindung fremder Traditionslinien begründet sind. Die Ausbildung in dieser historischen Blickrichtung zu korrigieren ist ebenfalls problematisch, da Sie Geld kostet. Und die dritte Überlegung bezieht sich auf die gegenwartslose Gegenwartsmusik. Fehlt die Produktion durch eine komponiertende Kantorenschaft, ist die Einbindung des außerhalb der Kirche entstehenden kirchenmusikalischen OEuvres nur rudimentär möglich. Damit hat die Kirche eine kompositorische Tradition aufgegeben, die mittlerweile so augen- bzw. ohrenfällig ist, daß man sich fragt, ob die Kirche in Sachen Musik überhaupt noch etwas zur Weltmusik beisteuern kann. Die verschwindend geringe Anzahl an zeitgenössischen Werken in der Kirche stammt zumeist ohnehin von Komponisten, die keine Kirchenmusiker sind. Das Fach Komposition findet so gut wie keinen Platz in der kirchenmusikalischen Ausbildung. Die wenigen Stunden, die als geduldeter Zusatz erteilt werden, sind gemessen an der Zahl der Studierenden unerheblich.

Wenn ich das Bild nun zusammenfassen will, muß ich leider sagen:
1. Das Berufsbild des Kantors entspricht nicht mehr den Erfordernissen unserer Zeit und eine Umstellung der Ausbildung scheint finanziell unmöglich, zumal die Anzahl der Vakanzen dem Bedarf nicht entspricht.
2. Die große Tradition der Kirchenmusik in Deutschland wird in keiner Weise dem musikologischen Erkenntnisstand gerecht. Damit ergibt sich eine Auslagerung kircheneigener Historie in den weltlichen Konzertsaal.
3. Eine innovative Fortsetzung der musikalischen Tradition durch neue Kirchenmusik findet vorrangig entweder im Bereich der Popmusik statt oder wird von “außerkirchlichen Komponisten” gepflegt. Die bedeutendsten Kirchenmusikwerke unserer Zeit entstanden außerhalb der Kirche, wurden leider auch oft außerhalb der Kirche aufgeführt und von der Mehrheit der Kirchenmusiker ohnehin gar nicht wahrgenommen.

Desiderata:

Aus dieser nicht sehr erfreulichen Situation herauszukommen heißt für mich, Konzeptionen zu fahren, die vordringlich das Berufsbild des Kirchenmusikers verändern. Dabei beziehe ich mich auf historische Konzepte, die sicherlich auch heute wieder tragfähig sein könnten.

1. Generell ist das Berufsbild der derzeitigen B- und C-Ausbildung unter rein kirchlichen Aspekten ausgerichtet. Mein Vorschlag wäre, die B- und C-Ausbildung mit der Ausbildung zum Schulmusiker in der Gestalt zu koppeln, daß innerhalb dieser Studienkombination das Fach Kirchenmusik das sogenannte zweite Schulfach wie beispielsweise Deutsch oder Geschichte ersetzt. Das ist insofern studienfreundlicher, als daß es wesentliche Fächergleichheiten zwischen Schulmusik und Kirchenmusik gibt. Das wären beispielsweise alle musiktheoretischen Fächer, Klavierspiel, Musikgeschichte, Psychologie, Pädagogik etc. und dann gäbe es noch die Fächer, die erweitert werden sollten: Liturgisches Orgelspiel und Schulpraktisches Klavierspiel haben rein musikfachlich ähnliche Inhalte, nur daß das eine am Choral und das andere am Volkslied geschult wird. Bei geringer Anhebung der Stundenzahl, wäre hier eine Zusammenlegung durchaus möglich. Außerdem habe ich erlebt, daß ein Kantor in jedem Falle ein Volksliedspiel beherrscht, wohingegen der Schulmusiker wenig oder nichts vom Choralspiel versteht. Und letztlich gäbe es Fächer, die entweder der einen oder der anderen Studienrichtung angehören, wie beispielsweise Methodik. Studienorganisatorisch können sowohl zwei Ausbildungseinrichtung zusammenwirken als auch eine Kirchenmusikhochschule bei Aufstockung der Lehrpersonals solches leisten. Ich könnte mir denken, daß hierbei auch der Staat an der Ausbildungsfinanzierung beteiligt ist. Über den praktischen Hintergrund einer solchen Kombination für die Absolventen läßt sich sicherlich nicht streiten. Abgesehen davon, daß Schul- und Kirchenchor, Schul- und Kirchenensembles eine Einheit bilden würden. Darüber hinaus wäre die Einbindung von Nichtmitgliedern der Kirche durchaus dazu möglich, diese für die Kirche zu begeistern. Musik hat ja schon immer Brücken geschlagen.
2. Die Ausbildung gerade im A-Bereich sollte zwar wahlweise Schulmusik oder besser Dirigieren als Nebenfachstudiengang anbieten, so daß es den Absolventen möglich wird, auch im nichtkirchlichen Bereich eine Anstellung zu finden. Die musikalischen Ausbildungsstukturen sollte verstärkt das Fach Historische Aufführungspraxis mit praktischen Seminaren und einem Workshop pro Jahr anbieten. Gleiches gilt natürlich für die zeitgenössische Musik. Jeder A- Student sollte sich entscheiden können, ob er den Fächerkatalog der alten oder den der neuen Musik zu seiner Subspezialisierung auswählt.  Das Fach Komposition sollte für alle Studenten im A-Bereich als Pflichtfach, im B-Bereich wahlweise angeboten werden. Die seltsame Auffassung, daß viele nicht über die notwendige Fantasiebegabung verfügen, halte ich für falsch: Fantasie entwickelt sich am Objekt und bei der Arbeit und ist wie alle Kreativität schulbar. Nur wird der eine eben mehr handwerklich arbeiten, der andere hat vielleicht eine größere Erfindungsgabe ... Welches Glück, daß die Menschen verschieden sind. Komposition kann auch im Plenum unterrichtet werden. Das ist insofern interessant, als daß der eine vom anderen lernt und der Lehrer nur Anregungen und Denkanstöße gibt. Dabei ist auch stets auf handwerkliche Sauberkeit zu achten. Ein besonderes Anliegen sollte sein, daß die jungen Komponisten ihre Stücke mit Hochschulensembles oder als Einzelinterpreten in Podiumskonzerten den anderen zur Diskussion stellen. Nur auf diese Weise läßt sich Ästhetik und Handwerk gleichermaßen schulen. Ich erwarte keine Meisterwerke, zumindest anfänglich nicht. Aber Haltung, Stil, Fachlichkeit - das sollte den Kirchenmusiker von heute prägen. Das Profil der evangelischen Kirchenmusik wünsche ich mir für die Zukunft wesentlich innovativer und vor allen ein bißchen mehr Mut und Entdeckergeist beim Betreten von Neuland.

Halle, 22.07. 1998
Thomas Buchholz





© 2006 Thomas Buchholz - Komponist

  top ↑