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Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf

Die große Unsicherheit wird durch eine unreflektierte Sicht auf unsere kulturelle Vergangenheit freigesetzt. Vielleicht hat das Europa-Phantom und andere politischen/ökonomischen Zwangsmaßnahmen im 20. Jahrhundert zu jenem Vakuum geführt, dass uns im verkrampften Geradeausblick auf Wurzelsicht tröstet. Nur hat die Wurzel die Angewohnheit, zumindest botanisch, sich der Veränderung des aus ihr entspringenden Sprosses anzupassen. Würde sie dies nicht tun, erschlüge sie ihre eigene Kreation. Ich möchte an dieser Stelle nicht die Konsequenzen erörtern, die eine degenerative Entwicklung reziprok an den Ursprüngen verursacht. Abgesehen von dem Zerrbild in der Tröstung solcher Rückbesinnungsapolstel, die schon allein durch ihre Weltuntergangstheorien an solchen erdgeschichtlichen Alltäglichkeiten wie Sonnenfinsternissen oder der lustigen Rundung von zwei Tausendern menschengemachter Zählkunst scheitern. Es wird immer Götter geben; wir brauchen sie um etwas zu haben, an das nicht zu glauben, uns neue Gottsichtige lehren dürfen. Welch weise Vision von der Unendlichkeit geschichtlicher Prozesse. Wie viele Wurzeln der Humangenese wurden dadurch schon gerodet? Wer mag den Grad des Rudimentären auszumachen, dessen schemenhafte Konturen verführen, “Ursprung zu deuten, wo nur Veränderung ist. Falls Heraklid recht hat mit seinem untröstlichen “ALLES FLIESST, müsste sich der Mensch von der zentrierten Rotation verabschieden, als dessen Fundament er die vermeintlich zirkumpolaren Ursprünge zur Ankerung seiner Drehung mißbraucht.

Das letzte Jahrhundert war im Gegenzug zu den umfangreichen geistesgeschichtlichen Entwicklungen auch mit Verarmungstendenzen angereichert, so als müsse jeder Gewinn mit Verlust bezahlt werden. Es scheint als bleibe die Summe von geschichtlichen Entwicklungsergebnissen immer gleich, als habe die biblische These von der Schwachheit des menschlichen Geistes bezogen auf die Humangenese Ewigkeitsanspruch. Die defizitären Entwicklungen werden als Werteverlust definiert, was so leicht und verführerisch ist, dass jeder es glauben möchte, der wie auch immer geartete Verlustempfindungen hat. Interessant vielleicht könnte die Überlegung sein, dass derartige Empfindungen ihren Wertungshintergrund immer aus Tradiertem schöpft, der Verlust also aus dem Verschwinden von Gewohntem, Liebgewordenem empfunden wird. Ob es eventuell nicht auch so sein könnte, dass alte Werte durch neue Werte ersetzt werden, die man nicht sehen will oder kann, oder ob nicht alten Werten einfach neue hinzugefügt werden, deren allgemeine Akzeptanz keine Garantie besitzt, bleibt die dabei diffizilste Frage. Und diese Frage wirft ein Problemfeld auf, dass gerade die Künste und Wissenschaften berührt.

Die zunehmende Demokratisierung der Fortschrittsgesellschaften wird allgemein als Wertegewinn betrachtet. Und das ungeahnt der Tatsache, dass die großen geistesgeschichtlichen Neuerungen zumindest anfänglich immer elitär waren und bis auf den heutigen Tag sind. Und nichts ist dem Demokratiegedanken konträrer als die Synoptik von Elite und Masse. Die vom Marxismus vertretene Ansicht von der Volksmasse als treibende Kraft geschichtlicher Entwicklung findet sich letztlich auch in den modernen Demokratien wieder. Obwohl in der Geschichtsschreibung nach wie vor Namen einzelner Personen dominieren, ja ganze Abschnitte definieren (Hitlerfaschismus, Stalinismus ...). Schon allein die demokratische Mehrheitsentscheidung, die sich als Form von Entscheidungsfindung mittlerweile bis in die kleinesten Zellen des Zusammenlebens von Menschen durchgesetzt hat, wirkt paradox zur Individualentwicklung einer Art von Singlegesellschaft, die offenbar von den USA auf Europa übergegangen ist. Die Demokratien, insbesondere die Parteidemokratien westlicher Prägung implizieren paradigmatisch die Dominanz der Mehrheitsakzeptanz vor jeder Vernunftsentscheidung. Parallel dazu ergeben sich ökonomische Probleme, deren Ursache darin besteht zu bestehen scheint, dass die Freiheit des Individuum in Abhängigkeit von dem Besitz an materiellen Werten definiert ist. Nur was bezahlbar, ist auch realisierbar. Geld aber hat die seltsame Eigenschaft, dass es sich offenbar nicht gleichmäßig verteilen lässt, wodurch sogenannte Finanzeliten entstehen, die nicht identisch sind mit geistigen Eliten. Vielmehr sind die geistigen Kräfte einer Gesellschaft dem Lebensstil der finanziellen Kräfte diametral entgegengesetzt. Das ergibt dann einfach unterschiedliche Wertdefinitionen, die sich im pluralistischen Demokratiestaat als ein besonderes qualitatives Element herausstellen. Immer wieder wird von der gleichen Gültigkeit der individuellen Wertvorstellungen gesprochen. Doch diese gleiche Gültigkeit hat zu einer Gleichgültigkeit geführt, in der ein Sondierungsprozess unmöglich scheint, wären da nicht die finanziellen Triebkräfte, die alles steuern.

Dass solche gesellschaftlichen Situationen dazu führen, dass das Individuum neue Orientierungen sucht, liegt auf der Hand. Da aber ein Weiterdenken der Gegebenheiten relative Ungewissheit schafft, aus der man ja gerade ausbrechen will, beginnt der Prozess der Restauration alter Werte. Dinge, die vollkommen dem temporalen und regionalen Zusammenhang enthoben sind werden zu jetztzeitigen Paradigmen erhoben, so als sei die Messlatte für heutiges Komponieren die Musik vergangener Zeit. Das sind nach meiner Auffassung Anachronismen, die schon darum paradox sein müssen, weil die gesellschaftlichen Bedingungen für das Schöpfertum gänzlich verändert erscheinen als die historischer Lokal-Tempotal-Bedingungen.

Thomas Buchholz, 1999





© 2006 Thomas Buchholz - Komponist

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