...nicht mehrheitsfähig...
Über die Stilistik in der Kunst gibt es eine ungeahnte Vielfalt
an Publikationen. Die sich daraus ergebenden Definitionen sind ebenso umfangreich
und bringen in der Konsequenz mehr Verwirrung als allgemeine Hinweise.
Stil als Gemeinsamkeit aller verwendeten Mittel zu definieren dominiert
dabei das Definitionschaos. Gegen diese sehr allgemein gehaltene Formulierung
ist prinzipiell nichts einzuwenden. Die wesentliche Frage dabei ist die
nach den Mitteln. Es ist zu beobachten, dass bei vielen Komponisten
die zu einer Einheit verbundenen Mittel in ihrem Ursprung weniger auffällige
Verschmelzungsfähigkeit besaßen. Offenbar hat hier ein Medium
den Ausschlag gegeben, dass im gegebenen Postulat nicht definierbar zu
sein scheint.
Jeder schöpferisch arbeitende Künstler berührt aber mit
seinem Werk das Problemfeld immer von Neuem. Dabei wird eine Frage besonders
deutlich: Wie verhält sich der Künstler in seinem Werk zur Vergangenheit?
In welcher Weise kann oder will er schöpferisch mit der auf ihn überkommenen
Tradition umgehen? Niemand lebt außerhalb der ihm gesetzten
Grenzen von Raum und Zeit. Die mit dem Geniekult im Europa
des 19. Jahrhunderts aufgekommene Betrachtung von der Überzeitlichkeit
großer Kunstwerke darf angesichts der Dimensionen exglobaler Sicht
als eine Fixion gelten. Mit dem Untergang der Erde können auch alle
ihre Kulturen vernichtet werden , ohne dass dadurch die Zeit stehenbleiben
würde. Das denknotwendige Prinzip künstlerisch schöpferischer
Arbeit muß also allein von der Existenz des Menschen abhängig
gemacht werden und kann nicht ohne ernste Bedenken über seine Zeitlichkeit
hinaus postuliert werden. Der Vergangenheitsbegriff definiert in sich ja
auch nicht die Erdaltzeit, sondern berührt einen relativ kleinen Zeitabschnitt.
Somit kann es nicht mehr verwundern, dass es Kulturen auf dieser Erde gibt,
die statisch erscheinen, weil sie in sich keinen Anspruch auf jenen Gedanken
erheben, der das europazentristische Weltbild prägt: FORTSCHRITT.
Wobei sich immer nur recht wage erklären läßt von wo der
Schritt nach wohin gehen soll, und was das Fortschreiten notwendig machen
soll. Veränderungen alter Kulturen vollzogen sich immer nur als Ergebnis
politischer und/oder kriegerischer Auseinandersetzungen mit anderen Kulturen.
Im Gegensatz zum Eurozentrismus wird Veränderung innerhalb von frühzeitlichen
Kulturen immer auch skeptisch betrachtet, weil offenbar Verunsicherungen
und eine Abkehr von den für gut und überlebensnorwendig gehaltenen
Traditionen der Väter befürchtet werden, die die Existenz
der Gemeinschaft gefährden könnten. Das ist angesichts der Erfahrung
dieser Völker, die Veränderungen ihrer Kultur auch mit Verlusten
an Identität im Ergebnis der Auseinandersetzung mit anderen Völkern
erlebten, verständlich. Diese Sichtweise kann für die Neuzeit
aber nicht zutreffen. Vielmehr hat sich erwiesen, dass Völker, die
sich nicht in ständiger Bewegung befinden, in existentielle Nöte
geraten. Diese Ansicht mag übertrieben klingen, läßt sich
aber an konkreten Fällen beweisen. Ob hierbei Dominanzen der diese
Kultur des ständigen Fortschritts betreibenden Nationen die ausschlaggebende
Rolle spielen, oder ob hierbei "Naturgesetze" wirken, kann für unsere
Betrachtung keine Bedeutung haben. Und die nächte Frage wäre
dann, ob diese von den meisten Menschen als schnelllebig empfundene
Zeit in Wahrheit schneller in ihrem Erkenntnisgewinn voranschreitet als
in früheren Zeiten.
Kommen wir also zurück zum Ausgang der Betrachtung. Da jeder Mensch
nicht außerhalb der ihm gesetzten Dimensionen von Raum und Zeit existieren
kann, also einer Regionalzeit zuzuordnen ist, die ihn nicht nur prägt
sondern seine Existenz überhaupt definiert, kann für die Erkenntnisse
seiner künstlerischen Produktion ausschließlich seine Lebenszeit
und sein Lebensraum gelten. Jeder der meint, er könne diese Grenzen
rückwärtig oder vorwärts mit seinem Schaffensprodukt überschreiten
erliegt einem grundlegenden Irrtum. Die stets am Gestrigen Orientierten
müssen sich den Vorwurf parasirärer Existenz gefallen lassen,
denn sie schaffen ausschließlich auf der Basis von geistigen Errungenschaften,
die einer anderen Existenwelt entstammen. Jene Fortschrittsfanatiker hingegen
kreieren Neues, für das es momentan keine gesellschaftliche Basis
gibt. Der ursprünglich negativ belegte Kritikerterminus von der "Zukunftsmusik"
hatte lediglich polemischen Charakter und besagt absolut nichts über
das Kunstwerk auf das er abgerichtet ist. Hingegen zu beobachten ist, dass
jene "Zukunftsmusik" auf der Basis vergangener Erkenntnisse ruht und diese
lediglich erweitert. Eine creatio ex nihilo ist uneinlösbare
Fixion. Im Umgang der Gesellschaft mit neuen Ideen jedoch zeigt sich (auch
im fortschrittsgläubigen Europa) die tiefe Verwurzelung der Menschheit
in ihren Ursprüngen archaischer Kulturen: Neuerungen implizieren das
Gefühl der Unsicherheit und werden somit von der Mehrheit bestenfalls
skeptisch aufgenommen. Ein vorurteilsfreies Einlassen auf die Neuerungen
bleibt Wunschdenken der Kreativen. Die Rücknahme der entwicklungsrelevanten
Kreativität aber wäre zwar "mehrheitsfähig" würde aber
letztlich Tod durch Stillstand bedeuten. Der Untergang der großen
Hochkulturen fand nach bisherigen Erkenntnissen immer auf dem Höhepunkt
ihrer Entwicklung statt. Diese Höhepunkte aber könnten sich auch
als Vorgänge erreichten Entwicklungsstillstandes definieren.
Kunst ist ein relativ undefinierbarer gesamtgesellschaftlicher Kulturfaktor.
Diese Undefinierbarkeit resultiert aus der funktionalen Vielgestaltigkeit
der Erscheinungs- und Verwertungsformen. Eine Unterteilung in Unterhaltung
= Kommerz und Anspruch = Kunst sollte angesichts unendlicher Vermischungen
zumindest hinterfragt werden. Damit kann sehr folgerichtig polemisiert
werden, dass Kunst sich eben auch über ihren Unterhaltungscharakter
definiert, andererseits Produkte kommerzieller Nutzung nicht voraussetzungslos
ohne Anspruch auf geistige Qualität sein müssen. Die Vielfalt
aller Kunst kann aber sehr wohl durch grundlegende Zugangsvoraussetzungen
oder -bedingungen für den Rezipienten unterschieden werden. Eine generelle
Voraussetzungslosigkeit für die Auf- und/oder Annahme von künstlerischen
Produkten kann es nicht geben. Und selbst die oben angesprochene regionalzeitliche
Determinante ist letztlich Zugangsvoraussetzung. Je differenzierter
aber diese Zugangsvoraussetzungen als Wissens- und Erlebnisfundus im Umgang
mir Kunst werden, um so größer wird die Chance der gesellschaftlichen
Ablehnung für diese Kunstformen oder -erscheinungen. Reziprog dazu
aber steigt das aufgewendete geistige Potential im Bereich des Produktiven/Kreativen.
Zu fragen, in wieweit sich die Theorie akzeptabel erhält, derzufolge
sich das Niveau einer Kulturstufe dadurch bestimmen läßt, welche
menschlichen Denkleistungen für ihre Erreichung erforderlich waren,
hieße in der Endkonsequenz, alle bisherigen Erkenntnisse über
die Genealogie des Lebens über Bord zu werfen. Das aber vermeidend
kommt man zu einer Fragestellung, die der modernen Politikwissenschaft
ein Dorn im Auge sein muß: Ob eine Demokratie der Definition über
Mehrheitsquoten überhaupt in der Lage sein kann, geistiges Niveau
und damit auch künstlerisches Niveau zu setzen und politisch durchzusetzen.
Und darüber hinaus leidet ja gerade die moderne Parteiendemokratie
offenbar an einem Mangel an geistiger Dimension, weil sie ständig
nur mit sich selbst beschäftigt ist. Für die Richtigkeit selbst
kleinster politischer Entscheidungen wird die Mehrheitsakzeptanz zum Prüfstein
für ihre Durchsetzbarkeit. Es geht oft leider darum, eine Legislaturperiode
möglichst unbeschadet zu überstehen, um danach mit neuen Kräften
die Schöpfung aus dem Nichts fortzusetzen. In diesem Zusammenhang
sind globale Fragen nach kultureller Identität am sichersten mit dem
schwer verbrauchten Traditionsbegriff zu klären. Tradition als Fortschritt
sozusagen. Die verwendeten Mittel zur Durchsetzung von Interessen einer
leider oft nur schweigenden Mehrheit laufen diametral auseinander und zwingen
Künste wie Wissenschaften zu selbstzerstörerischen Hürdenläufen.
Hierbei lässt sich weniger in den Künsten als vielmehr in der
Politik ein problemlos definierbarer Mangel an Stil erkennen.
Thomas Buchholz, 1998
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