Komponieren
Komponieren, so kann man bei dem amerikanischen Wissenschaftsautor Robert Jourdain in
seinem jüngsten Buch "Music, The Brain and Ecstasy" nachlesen,
ist jener Vorgang im Gehirn, der vom primären Musizieren die abgeleitete Form darstellt, bei der unentwegt der Hippocampus, also das neuronale Tor zur Erinnerung im Gehirn, früher abgespeicherte Musikerlebnisse (sei es durch Tun oder Hören) in das aktuelle Bewußtsein einspeist. Wenn
es so ist, wie die Wissenschaft das
Erlernen komplexer Fertigkeiten beschreibt, dann müßte auch
beim Komponieren die Anzahl der
Verbindungen sogenannter Chunks in Gehirn für die Qualität
der kompositorischen Arbeit
ausschlaggebend sein. Chunks sind komplexe Wissenseinheiten, ähnlich
einem Mikrochip, die in
ihrer Gänze gespeichert und abgerufen werden können. Nur
etwa sieben dieser Chunks kann das
menschliche Bewußtsein gleichzeitig erfassen. Die Anzahl der
Verbindungen, die Komplexität der
"Verdrahtungen" im Gehirn entscheidet also über die Qualität.
Quantitativ gesehen müssen etwa
100.000 dieser Chunks im Hirn miteinander verbunden sein, ehe das Komponieren
von Werken
höheren künstlerischen Ranges überhaupt möglich
ist. Das bedeutet eine ungefähre Wachstumzeit
von etwa 5-10 Jahren. Mit Sicherheit sind die vorauszusetzenden angeborenen
Anlagen
entscheidend für die Dauer dieser Wachstumszeit. Ausgehend von
dieser Erkenntnis wird klar, daß
jede schöpferische Tätigkeit mit einem Grundfond aus der
Erinnerung und der Erfahrung gespeist
ist. Das Erlernen jedweden musikalischen Handwerks, sei es das Instrumentalspiel,
die aktive
Musiktheorie, der Tanz etc. erfolgt in der Regelhaftigkeit abendländischer
Pädagogik und Methode
immer über das Begreifen der Tradition. Und nicht etwa der jüngsten,
sondern einer Tradition, die
Doppeltradition im Sinne der Wiederentdeckung des Alten im 19. Jahrhundert,
also des wiederum
Alten, ist.
Meine Frage soll dort anschließen, wo noch Erkenntnisgewinn möglich,
für das Musikverständnis
im gesamten 20. Jahrhundert unerläßlich ist. Die Frage nach
der verborgenen Tradition im
Gegenwärtigen. Die musikologische Auseinandersetzung mit kompositorischer
Rezeption ist,
gemessen an der Anzahl von Arbeiten, die sich mit der Tradition selbst
auseinandersetzen, relativ
gering. Eine wohl mehr pädagogisch-methodisch orientierte Textsammlung
mit dem Titel
“Musikalische Metamorphosen - Formen und Geschichte der Bearbeitung”,
die Silke Leopold herausgegeben
hat, dürfte als letzte Veröffentlichung gelten. Spärlich
ist gegenüber einer gewaltig wuchernden
Historie die Frage nach der Musik unserer Zeit behandelt. Die Autorin
Antje Müller zitiert in
ihrem Aufsatz “Die Wiederentdeckung der Alten Musik” Jürg Stenzel,
welcher behauptet hatte, die
Auseinandersetzung mit historischer Musik habe in der 2. Hälfte
unseres Jahrhunderts eine neue
qualitative Dimension bekommen, in dem sie sich als historische Legitimation
des Neuen darstellt.
Diese Hypothese hat oberflächlich betrachtet schon etwas glaubhaft
Verführerisches. Nun setzt
aber der Traditionsbegriff ein Mindestmaß an Bewußtsein
von Kontinuität der geschichtlichen
Abläufe voraus. Dieses schon von Hegel definierte Kontinuitätsbewußtsein
wiederum funktioniert
immer nur in einer intakten Gesellschaft, die frei ist von kulturellen
Verdrängungsmechanismen.
Innerhalb der gesellschaftlichen Prozesse des 20. Jahrhunderts ist
diese Kontinuität infolge der
Massengesellschaften des Industriezeitalters durch eine Reihe von Verdrängungssystemen
zerstört
worden. Der moderne Kulturbetrieb ist ein wesentlicher Bestandteil
solcher Verdrängungssysteme.
Er hat die Tradition vollkommen in Beschlag genommen. Durch Konservierung
und
Fetischisierung wird dabei eine längst verlorengegangene Kommunikationsbasis
illusionär erhalten,
in die man alles hineinprojiziert, was dazu geeignet erscheint, gesellschaftliche
und kulturelle
Identität auszuschmücken. Wenn aber Tradition derart von
einer kulturellen Öffentlichkeit als
Verdrängungsbedürfnis mißbraucht wird, dann hat sie
ihren Sinn verloren. Der in der Geschichte
durchwegs anzutreffende obligate Wiederstand der Kunst, gegen die überkommende
Verwendung
der jeweils verfügbaren konventionellen Ausdrucksmittel,
ist eng mit dem eigentlichen Sinn der
Kunst verbunden. Das hat auch Heinrich Schütz vorgelebt. Die oft
prognostizierte Krise der
Künste im 20. Jahrhundert hat ihren Ursprung in einer latenten
Tradition, die sich nicht identisch
sehen kann mit der landläufigen Traditionspflege. Vielmehr versucht
latente Traditionssicht,
historische Bezüge aufzudecken und anachronistische Verwurzelungen
zu sprengen. Jedwede
Traditionsbenutzung, die nicht vom Denken auf das Neue getragen ist,
muß sich mindestens den
Vorwurf eines unsichtbaren Gefängnisses gefallen lassen. Über
die Legitimation des Neuen, die
sich durch die trügerischen Konventionssysteme so abbildet, zu
reden, ist Unsinn, dem man wie
allem Sinnlosen zu gern auf den Leim geht. Die Frage bleibt also weiterhin
gestellt: Welche
Auswirkungen hat die, wie auch immer geartete, schöpferische Beschäftigung
mit der Tradition auf
das Erfinden und Finden von Musik hier und heute?
Lassen Sie mich eine hypothetische Frage anschließen: Wäre
es nicht möglich, daß die heutige
historisierte Lebensummantelung, die den Konzertalltag prägt,
geradezu dazu herausfordert, daß
der schöpferische Geist ererbtes bewußt oder unbewußt
in seinem Neuschaffen verarbeitet? Wie
verfänglich solche Fragestellung sein kann, beweist die Endlosigkeit
der lediglich dem
Entstehungsdatum nach neuen Stücke, die eine trostlose Einfallslosigkeit
durch den Griff in die
Mottenkiste unverstandener Übernahmen ausstrahlen. So gesehen
gibt es Endlosigkeit im Gesang
der Plagiatoren. Die meisten solcher “historischen” Ästhetiker,
die das Gesagte durch ihre Musik
bestätigen, haben einen musikgeschichtlichen Knick versucht, der
an der Unumkehrbarkeit der
Kontinuität geschichtlicher Prozesse scheitern mußte. Es
ist zweifelsfrei etwas Undurchdachtes in
der These Stenzels: Als müsse sich das Neue durch Rückgriffe
auf das Alte behaupten, oder gehen
wir noch etwas weiter, als sei das Neue nur dann anerkennenswert, wenn
es sich als Verwurzelung
mit der Tradition darstellt, in dem es diese benutzt, sich zu legitimieren.
Oftmals ist dann solches
vermeintliches Wurzeln in der Tradition eher ein Wursteln in ihr.
Und die Grenzen zum
Epigonalen sind in Wahrheit eben nicht fließend. Wenn also die
Neue Musik im Konzertalltag an
Akzeptanz gewönne, indem einige Komponisten verstärkt historische
Musik in ihren Werken
benutzten, wenn also diese Komponisten erfolgreicher wären, dann
müßte man die gesamte
Musikgeschichtsschreibung ändern. Aber es bleibt alles beim alten.
So und so!
Thomas Buchholz, 1996
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